„Lustige Nazis des 21. Jahrhunderts“ (Marcel Grauf 2014)
1. Die Funktion der Burschenschaft im Netzwerk der extremen Rechten
Zu Burschenschaften im Allgemeinen und zur Marburger Burschenschaft Germania im Besonderen wurde in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten schon Etliches publiziert, beispielsweise über Outingarchiv, Broschüren bei nadir.org, von Alexandra Kurt oder Dietrich Heiter, den Kampagnen Wälder, Wiesen, Neonazis und Stadt, Land, Volk, sowie kontinuierlich in antifaschistischen Zeitschriften wie dem Antifa Infoblatt oder der Lotta. Meist haben die Publikationen die Aktivitas oder die Burschenschaft im Ganzen im Blick. An dieser Stelle sollen noch einmal die in den vergangenen Jahren entwickelten Thesen zur allgemeinen Funktion von Burschenschaften aufgegriffen werden:
Der Rechtsruck wurde, vor allem in den Jahren 2013-2017, auf den Häusern der Burschenschaften vorbereitet und geplant, wobei der Dachverband Deutsche Burschenschaft (DB) für das rechte Hegemonieprojekt besonders attraktiv ist. Die Burschenschaften der Deutschen Burschenschaft können als rechte Formungs- und Schulungsorte verstanden werden, deren Stärke darin liegt, junge rechte Männer im eigenen Sinne auszubilden und deren Charakter zu formen. Durch die ritualisierte und brauchtumsbezogene Sozialisation in der Burschenschaft werden die einzelnen Mitglieder in puncto Männlichkeit, Unterordnung und Härte zugerichtet, während gleichzeitig eine inhaltliche Ausbildung stattfindet. Dies eröffnet den Burschen Karrierechancen im rechten Hegemonieprojekt, etwa in der AfD und ihren angegliederten Organisationen. Doch auch wenn keine direkte Karriere in der extremen Rechten angestrebt wird, funktioniert das männerbündische Netzwerk der Burschen als Jobvermittlung. Selbige Burschen bleiben dabei häufig unerkannt und refinanzieren so ungestört die eigene Struktur und bringen sich weiterhin in der extrem rechten Welt der Burschenschaften, etwa deren zugehörigen Vereinen, ein: Diesem Mechanismus entgegenzuwirken ist das Anliegen des lebensbund.org-Projekts. Es geht darum, den analytisch oftmals auf die Aktivitas beschränkten Blick zu erweitern und die extrem rechten „Lebensbünde“ ins Auge zu fassen.
Jenseits von Jobs werden auch Anwälte, Wohnungen etc. über Burschennetzwerke vermittelt. Diese Netzwerke sind für die rechte Szene extrem hilfreich, da hier formelle Abgrenzungen und Distanzierungen zu anderen rechten Gruppierungen wirkungslos sind. Im Gegenteil kommen auf den Burschenschaftshäusern der DB bei Festen, Besuchen oder Vorträgen von Blood&Honour-Nazis bis hin zu rechtskonservativen LokalpolitikerInnen alles zusammen, was die rechte Szene zu bieten hat. Damit stellen die Immobilien der Deutschen Burschenschaft sichere Räume, die kaum öffentlich angreifbar sind. Jenseits dieser Räume stellt die DB mit ihrer Zeitschrift, ihren Finanzierungsmöglichkeiten und ihrer Nachwuchsausbildung ein bundesweites Netzwerk von und für die extreme Rechte. Sie organisiert den Rechtsruck mit und arbeitet daran, die Grenzen gesellschaftlicher Tabuisierungen aufzuheben. Dabei unterläuft sie Abgrenzungen und organisiert Synergieeffekte zwischen Rechten verschiedener Couleur. Durch die unterschiedliche Ausrichtung der Mitgliedsbünde und der einzelnen Mitglieder schaffen es die Burschen, verschiedene Spektren der (extremen) Rechten einzubinden. Diese Arbeit findet in der Regel nichtöffentlich auf den Burschenhäusern statt.
Zwischen der Entwicklung in der DB und der AfD gibt es nicht nur Parallelen, sondern auch Überschneidungen. Der „Flügel“ der AfD konnte sogar auf Wissen und Erfahrungswerte derjenigen zurückgreifen, die heute noch in der DB sind. Wie auch die AfD hat sich der burschenschaftliche Dachverband in den vergangenen Jahren immer wieder gespalten und kontinuierlich nach rechts entwickelt. Die Konfliktpunkte in der DB waren dabei viel offensichtlicher: So wurde gestritten, ob Deutschland in den Grenzen von 1945 anzuerkennen sei oder welche vermeintlich rassischen Körpermerkmale ein Mensch besitzen müsse, um deutsch zu sein. Die Konflikterfahrung der Deutschen Burschenschaft fließt dabei durch personelle Überschneidungen und regen Austausch in die AfD ein.
Die Frage, wieso sich trotz offener extrem rechter Umtriebe bis (Neo-)nazismus die deutschen „Sicherheits“-behörden kaum für die Deutsche Burschenschaft oder die Marburger Burschenschaft Germania interessieren, kann nicht abschließend beantwortet werden. Für Zweitere kann gesagt werden, dass ihre Verflechtungen im Konservatismus und Behörden früher stärker waren und sie nach aktuellem Kenntnisstand auf kein festes Netzwerk zurückgreifen kann. Das Wegschauen der Behörden ist somit treffender durch Blindheit bis Sympathie der Behörden(-mitarbeiterInnen) gegenüber der extremen Rechten im Allgemeinen zu erklären. Außerdem treten die Mitgliedsbünde im Vergleich zu anderen Naziorganisationen kaum in der Öffentlichkeit auf und schaffen somit weniger Reibungsfläche – ein Aspekt, den die kritische Öffentlichkeit analysieren und diskutieren muss. In Einzelfällen kann auch davon ausgegangen werden, dass es aufgrund der Überschneidung zu anderen Organisationen Behördenspitzel innerhalb der DB gibt, die geschützt werden sollen.
2. Nachwuchsproblem
Die Deutsche Burschenschaft hat aktuell ein Nachwuchsproblem. Immer weniger junge Männer zeigen an der antiquierten und reaktionären burschenschaftlichen Lebenswelt Interesse. Die DB selber hat das erkannt und diesem Thema die Ausgabe 2/2022 ihrer Zeitschrift Burschenschaftliche Blätter gewidmet. Direkt im Editorial wird ernüchternd festgestellt, dass das eigentliche Anliegen dieser Ausgabe – Burschenschaften mit ausreichend Nachwuchs zu porträtieren – aufgrund von mangelnden Beispielen nicht umgesetzt werden könne. In mehreren Artikeln wird darüber geklagt, dass die „(…) Jahre, in denen wir offen und aktiv an unseren Universitäten keilen oder mit Skat-Abenden begeistern konnten“ (S.7) respektive „die Zeiten, in denen man mit stolzgeschwellter Brust mit Couleur in die Vorlesung gehen konnte“ (S.1) vorbei sind. Zusätzlich geschwächt werden Burschen durch kontinuierliche antifaschistische Arbeit, die deren Tätigkeiten und Akteure öffentlichkeitswirksam beobachtet, einordnet und kritisiert. Auch schwächt die – wenn auch mangelhafte – in Teilen vorhandene Beobachtung durch den Verfassungsschutz die Burschenschaften, da sie dadurch vom bürgerlich erwünschten Diskurs isoliert werden (können). Dies ist jedoch zwiespältig, denn die Kehrseite bilden die damit einhergehenden neuen Finanzierungsmöglichkeiten durch das Anwerben von V-Personen seitens des Staates. Dennoch greift auch das Karriereversprechen der Burschenschaften schlechter, wenn aufgrund antifaschistischer Recherchen einzelnen Burschen eine Mitgliedschaft in extrem rechten Burschenschaften nachgewiesen werden kann.
Die öffentliche Thematisierung von extrem rechten Umtrieben in Burschenschaften führt zu einem Trend, der auch jenseits der Burschenszene in der extremen Rechten zu beobachten ist: Ostdeutschland als Fluchtort und Siedlungsraum. Nicht nur einzelne Burschen wie Philip Stein verlegen ihren Lebensmittelpunkt beispielsweise nach Sachsen, sondern teilweise auch ganze Burschenschaften wie die Dresdensia Rugia aus Gießen nach Bekanntwerden der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Mit ihrem Netzwerk und finanziellen Mitteln müssen Burschenschaften der DB klar als Teil des rechten Siedlungsprojekts angesehen werden.
Selbst für junge, aktionsorientierte Rechte sind Burschenschaften mit ihrer starken Selbstbezogenheit und zeitaufwändigem Eigenleben oft nicht attraktiv. Der relevante Unterschied, wieso es Burschenschaften im Gegensatz zu den Identitären, Nazi-Kameradschaften oder extrem rechten Parteien dennoch seit etlichen Jahrzehnten gibt, ist die Altherrenschaft. Diesen besteht aus den Mitgliedern der Burschenschaft, die nicht länger studieren und somit nicht mehr der Aktivitas angehören, aber durch das Lebensbundprinzip Teil der Burschenschaft bleiben. Sie stellt Strukturen wie die Finanzierung der Häuser, eigene Zeitungen etc. bereit, die jederzeit (re-)aktiviert werden können, sobald sich nur eine Handvoll junger Rechter findet. Die Altherrenschaft ist dank dieses Lebensbundprinzips das Rückgrat und die Lebensversicherung der Burschenschaften und muss als dieses verstanden und analysiert werden.
3. Die Funktion der Altherrenschaft als Teil des Lebensbunds
Schwankungen wie bei der AfD durch Wahlen, Strafverfahren gegen einzelne Mitglieder, antifaschistische Kampagnen, Mitgliederflauten, finanzielle Engpässe und Etliches mehr sind für Burschenschaften nicht existenziell gefährdend, solange die Altherrenschaft im Hintergrund die Struktur am Laufen hält und hin und wieder Nachwuchs dazu kommt. Das Lebensbundprinzip ist ein relevanter und hervorzuhebender Unterschied zwischen Burschenschaften der DB und anderen extrem rechten Organisationen. Um ein Beispiel zu nennen: Ein zentraler Grund, weshalb es das Identitären-Haus in Halle nicht mehr gibt, diverse Burschenschaftshäuser allerdings schon, ist die Beteiligung und Finanzierung der Altherrenschaften.
Die hohe Summe an rechten Skandalen rund um die DB im Allgemeinen, sowie der Marburger Burschenschaft Germania im Besonderen – siehe etwa die etlichen Naziveranstaltungen auf dem Haus der Marburger Burschenschaft Germania – passieren nicht trotz, sondern wegen der Altherrenschaft, denn die alten Herren sind aus Überzeugung Mitglieder extrem rechter Burschenschaften, wobei der jüngste Angriff der Aktivitas der Marburger Burschenschaft Germania auf die Nachbarverbindung Burschenschaft Frankonia ein weiteres Beispiel der gewaltbereiten Gesinnung dieser selbsternannten Elite ist (siehe die Beispiele: 1//2//3). Durch interne Kommunikation via Germanenzeitung, Mails oder Sitzungen bekommen die Alten Herren der Marburger Burschenschaft Germania mit, was auf ihrem Haus passiert, selbst wenn sie nicht mehr dort wohnen. Im Falle der gewalttätigen und gut dokumentierten Übergriffe auf Journalist*innen im Rahmen des JA-Landeskongresses 2017,[1]https://stadtlandvolk.net/?p=143 wurde anschließend intern in der Germanenzeitung diskutiert, dass keine externen Veranstaltungen mehr auf dem Haus stattfinden sollten, das Haus jedoch „über das Gelände hinaus“ verteidigt werden dürfe. Es ist weder möglich, noch nötig die diversen Skandale der Germania in den letzten Jahren aufzuzählen, sie können an entsprechender Stelle nachgelesen werden. Die Marburger Burschenschaft Germania ist empirisch nachgewiesen eine extrem rechte Organisation – oder wie Alter Herr Marcel Grauf im Chat mit seinem Bundesbruder Markus Schreiber die Burschenschaft beschreibt: „[Wir sind] keine Liberalos, aber auch keine konservativen Kackspasten […] Einfach lustige Nazis des 21. Jahrhunderts […] Lebensbundtechnisch: Gelebte Freundschaft im großen und ganzen.“ Dennoch arbeiten diverse Alte Herren unbehelligt in bürgerlichen Jobs und genießen darüber öffentliches Ansehen: Trotz rechter Überzeugungen und Umtriebe ist beispielsweise Carsten Nödel Direktor einer Grundschule, Jochen Ritter in der Partei Freie Wähler aktiv, Martin Windhagen der Direktor einer Klinik, Volker Hein bei SAP angestellt, Hans-Jürgen Gerner mit Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und Steffen Tschackert erfolgreicher Promi-Zahnarzt. Besonders durch die im Berufsleben gut etablierten und sich nach außen unpolitisch gebenden Alten Herren ist es erst möglich, das Nazizentrum in der Lutherstraße in Marburg weiter zu betreiben.
Gerade durch das Lebensbundprinzip von Burschenschaften wird die politische Beteiligung an der rechten Erfahrungswelt über die Aktivitas und das Leben auf den Burschenschaftshäusern hinaus ausgedehnt. So werden die Familien, insbesondere die Partnerinnen und Ehefrauen der Alten Herren in die ritualisierte, patriarchale Lebenswelt integriert. Dies alles zeigt: Die politische Analyse des Netzwerkcharakters der DB-Burschenschaften und der Marburger Burschenschaft Germania im Besonderen kann sich nicht allein auf die Geschehnisse auf den Häusern beziehen, sondern muss einen breiteren Blick dafür gewinnen, was als politisch gilt. So kann die berufliche Tätigkeit, sowie das familiäre Umfeld nicht als unpolitisch und getrennt von extrem rechten Einstellungen der Alten Herren betrachtet werden. Sie finanzieren extrem rechte Strukturen, werben neue Leute an (keilen) und verbreiten ihre menschenverachtende Ideologie auch außerhalb der burschenschaftlichen Häuser. Nur durch antifaschistische Intervention ist es möglich, diesem Tätigwerden in gesellschaftlich angesehenen Positionen entgegenzuwirken.
Verweise